
Sofern die Füllung stimmt: Mehrwert. Aber schauen wir uns das einmal etwas genauer an.
Ganzheitliches Training ist mittlerweile ein ähnlich gern genutzter Begriff wie „Coaching“. Gemeinsam ist ihnen ihre Deutungsoffenheit, ihr Mangel an zuverlässiger inhaltlicher Füllung. Kein
Begriff, bei dem sich sofort erschließt, was gemeint ist. Was auf den ersten Blick als Defizit erscheinen mag, eröffnet zugleich die Chance, den Begriff mit Leben zu füllen und begreifbar zu
machen.
Wie ganzheitlich ist ganzheitliches Training?
Schaut man sich die Angebote im Internet an, finden sich im Wesentlichen zwei „Definitionen“: eine enger und eine weiter gefasste.
Legt man die engere Bedeutung zugrunde, meint ganzheitliches Training ein Ganzkörpertraining, bei dem nicht nur eine, sondern mehrere oder alle motorischen Fähigkeiten trainiert werden: Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit, Gleichgewicht. Hierzu zählt auch der Einsatz moderner Methoden wie z. B. Functional Training, Faszientraining. Ein sinnvoller Ansatz, der den Körper in seiner Gesamtheit würdigt und ihm möglichst vielfältige Trainingsangebote macht.
Weitergehende Ansätze beziehen zusätzliche körperliche (z.B. gesunde Ernährung) und mentale Aspekte ein. Hier spielen der Einsatz von Entspannungsverfahren ebenso eine Rolle wie
Bewegungsformen, denen der ganzheitliche Gedanke immanent ist: Qigong, Feldenkrais, Spiraldynamik etc.
Training im Einklang von Körper, Geist und Seele
Als TCM-Therapeutin (SMI) und Qigong-Lehrerin gehe ich noch einen Schritt weiter. Ganzheitliches Training sollte meinem Verständnis nach möglichst auch die emotionale und seelische
Ebene einbeziehen.
Sie fragen sich jetzt vielleicht: Warum? Geht das nicht zu weit?
Es mag sicherlich nicht für jeden oder zu jedem Zeitpunkt passen, und für viele Menschen ist ein klassisches Training, das sich auf die Körperebene fokussiert, genau das richtige. Dennoch lohnt
es sich häufig, den Blick zu weiten. Bisweilen entscheidet gerade diese Öffnung über den (langfristigen) Erfolg eines Trainingsimpulses.
Ich halte es diesbezüglich mit der ganzheitlichen Medizin, die den Menschen als offenes System begreift, das auf körperlicher, energetischer, mentaler, emotionaler und seelischer Ebene in einem
beständigen Austausch mit dem Umfeld steht. Ist ein oder sind mehrere Bereiche nicht in der Balance, kann sich das auf das Wohlbefinden und das Training auswirken. Umgekehrt ist Training ein
Angebot, positive Impulse auf allen Ebenen zu setzen und das Körper-Geist-Seele-System bei der Selbstregulation zu unterstützen.
Um es (be-)greifbarer zu machen, nachfolgend drei Beispiele:
1. Training darf Freude bereiten
Die Bedeutung von Körper, Geist und Seele für das Training zeigt sich bereits bei der Frage, ob ein Bewegungstraining überhaupt aufgenommen und durchgehalten wird. Gelingt es nicht,
Freude am Training zu wecken (d.h. die „Seele einzuladen“) entsteht meist Widerstand. Trainiert wird dann im besten Fall aus Pflichtgefühl und über Verstandeskraft – wenn überhaupt. Das erhöht
die Gefahr von Verletzungen und führt nach geraumer Zeit meist zum Trainingsabbruch.
Oft spielen auch traumatische Erfahrungen aus dem "klassischen Sportunterricht" eine nicht immer bewusst wahrgenommene, aber häufig umso bedeutsamere Rolle.
An dieser Stelle müssen auch Trainer umdenken: Die aus fachlicher Sicht beste Wahl eines bestimmten Bewegungstrainings (Art, Durchführung), muss nicht zwangsläufig für den Klienten stimmig sein. Hier sind Empathie, Flexibilität, Kreativität und die Bereitschaft gefragt, mit dem Klienten ganz neue Wege zu gehen. Zur Lösung tragen oft ganzheitliche, sanfte Bewegungsmethoden (siehe oben) bei: sie helfen, Bewegung positiv zu erfahren, den Körper besser und schmerzfrei wahrzunehmen und mit ihm in einen Dialog einzutreten.
Frei nach meinem Motto: Trainiere mit und nicht gegen deinen Körper.
2. Die Auswirkungen emotionaler Belastungen auf das Training
Dauerhafte innere Anspannung z.B. aufgrund ungelöster Konflikte oder von Stress kann zu einer muskulären und faszialen Dauerspannung führen, die Auswirkungen auf das Training und den
Trainingserfolg hat. Bleiben solche Aspekte unberücksichtigt, kann dies günstigenfalls zu mangelhaften Trainingserfolgen und im ungünstigen Fall zu unverstandenen, wiederkehrenden
Verletzungen führen. In solchen Fällen kann ein holistischer Ansatz, der Klärungen auch auf anderen Ebenen einbezieht (z.B. Entspannungstraining, Coaching), zum Durchbruch führen.
3. Das Zusammenspiel von Körper und Seele
Menschen mit Lungenerkrankungen weisen oft eine veränderte, nach vorne geneigte Körperposition auf. Auch hier kann ein ganzheitlicher Ansatz das Thema von mehreren Seiten aus angehen. Eine
sinnvolle Ergänzung zu einem klassischen Training, das dem Körper in die Aufrichtung hilft, können Atemübungen sein. Wer noch tiefer gehen mag, kann beispielsweise Übungen aus der chinesischen
Meditationspraxis für die Lunge (Heilende Laute) hinzunehmen. Sie helfen, körperliche und seelische Belastungen der Lunge (Trauer) mittels
sanfter Bewegungen und Tönen loszulassen.
Solche Zusammenhänge finden sich selbstverständlich auch für andere Organ/Körper-Seele-Zusammenhänge (Herz, Darm, Magen etc.). In jedem dieser Fälle bildet die individuelle Betrachtung den Ausgangspunkt für den persönlichen Lösungsweg.
Training als Feld der Möglichkeiten – vieles kann, nichts muss
In diesem Verständnis kann ganzheitliches Training als individuelle Entdeckungsreise unter Begleitung betrachtet werden. Im Fokus steht die Frage: Was benötigt der Trainierende zu diesem Zeitpunkt für ein optimales Trainingserlebnis und einen optimalen Trainingserfolg?
Die Antwort umfasst den gesamten Horizont des Ganzkörpertrainings mit klassischen Trainingszielen (Schmerzreduktion/-freiheit, Modellierung, Gewichtsregulation etc.) bis
hin zu achtsamem, sanftem Bewegungstraining mit ganz individuellen Zielen unter Einbeziehung von Geist-Seelischen-Aspekten. Trainierende und Trainer sind aufgefordert, sich dieser Frage
immer wieder von neuem zu stellen, denn:
Das einzige von Bestand ist die Unbeständigkeit. Diesem Wandel ist jeder einzelne von uns zu jedem Zeitpunkt ausgesetzt. Ebenso wie unser Training.